Dass Vivian Dittmar in ihrem Gefühls-Kompass Scham als eins der Basis-Gefühle ansieht, hat mich zunächst überrascht. Beim genauerem Hinschauen kann ich ihrer Argumentation folgen, die Scham als wichtigen Begleiter bei unserer persönlichen Entwicklung anzusehen. (Für neu Hinzugekommene: wie in den vorherigen vier Briefen beziehe ich mich auf das Interview mit Vivian Dittmar und den Artikel „Hallo, wir sind Ihre Gefühle“).
Scham als Kraft wendet den Blick nach innen, auf uns selbst. Wir bemerken, dass wir etwas tun oder getan haben, was wir selbst als unangemessen oder falsch ansehen. Wir können so unsere Grenzen, Fehler und Schwächen erkennen. Mit dieser Erkenntnis sind wir in der Lage, das was geschehen ist zu korrigieren und die Verantwortung für etwas zu übernehmen, wo es uns nicht gelungen ist, zu unseren Werten zu stehen.
Wenn wir diese Art, auf uns selbst zu schauen, immer mehr integrieren, sind wir mit der Zeit in der Lage, uns liebevoll in unserer Unvollkommenheit anzunehmen. Wir lernen, demütig zu sein.
Übertriebene Scham führt zu Perfektionismus, zu Selbstzerfleischung. Wenn wir einen Absolutheitsanspruch haben darüber, wie wir sein sollten, wenn wir finden dass es uns so, wie wir sind, eigentlich nicht geben sollte, dann können wir nicht fühlen, dass unser Gegenüber uns verzeiht, weil wir uns selbst nicht verzeihen können.
Umgekehrt macht zu wenig Scham egozentrisch und selbstherrlich, unfähig, sich zu entschuldigen.
Es steckt eine große Kraft und Klarheit darin, sich zu entschuldigen für etwas, das wir getan oder versäumt haben. Wir können den Unterschied spüren, ob sich jemand auf der Basis einer tiefen Selbstannahme entschuldigt oder ob er sich dabei selbst zerfleischt und vor uns „am Boden liegt“.
Achten Sie einmal bei Ihrer nächsten Entschuldigung darauf, ob Sie sich aus tiefem Herzen heraus entschuldigen oder ob Sie die Entschuldigung „nur so dahin sagen“ weil es schwer fällt, sich mit dem eigenen Unvermögen anzunehmen. Da öffnet sich ein wichtiger Übungsweg in Richtung einer tiefen Selbst-Annahme und gleichzeitig des Wissens, dass wir alle fehlbar sind und uns dann entschuldigen dürfen. Das ist mit Demut gemeint.
Die Scham als Kraft ist damit ein wichtiger Anzeiger für unsere eigenen Werte, dafür, was für ein Mensch wir sein möchten. Ich zitiere nochmal Vivian Dittmars Beschreibung von den Gefühlen als soziale Kräfte:
„Diese „reinen Gefühle“ haben durchaus die Aufgabe, uns beziehungsfähig zu machen. Wut, Angst, Trauer, Freude und Scham bilden den Gefühlskompass, der uns dazu befähigt, angemessen mit allen Situationen umzugehen, die uns im Miteinander begegnen.“