Gefühle-Letter Nr. 36: „Neu bewerten“

Was sehen Sie auf dem Titelfoto dieses Beitrags? Was, denken Sie, ist diese weiße Schicht hinten auf dem See? Machen Sie sich eine kurze Notiz und legen Sie sie zur Seite. Die Auflösung können Sie sich dann am Ende des Beitrags anschauen.

Nun zum heutigen Thema:

Kritisieren Sie sich manchmal, wenn Sie etwas nicht so, wie Sie es vorhatten, gesagt oder getan haben? Gibt es eine Situation, in der Ihnen dies öfter passiert?

Wenn Sie das nächste mal selbstkritisch unterwegs sind, versuchen Sie doch mal, diese Situation anders zu bewerten.

Zum Beispiel durch „Ah, ja, da ist sie wieder, die Situation die ich so gerne lösen möchte!“ Oder sogar: „Super, ja, genau! Danke, dass ich mir diese Situation wieder kreiert habe! Und danke dafür, dass ich den Mut aufbringe, daran zu arbeiten!“ Oder wenn etwas nicht so läuft wie erwartet, einfach: „Interessant!“

Wie fühlt sich das für Sie an? Wenn es Ihnen gelingt, die Bewertungen dazu in Ihrem Kopf zur Seite zu schieben und in sich hineinzufühlen, was da im Körper passiert?

Ich kann Ihnen versichern, dass Sie sich durch eine solche Haltung viel schneller in einen Zustand bringen, in dem Ihnen das Potenzial und die geistige Leistungsfähigkeit Ihres Gehirns vollständig zur Verfügung steht. Anstatt der üblichen Stressreaktion mit einer erhöhten Amygdala-Aktivität, die genau den Zugriff auf diese Leistungsfähigkeit verringert.

Und natürlich ist es, wenn wir eins unserer eingefahrenen Muster verändern möchten, besser, unsere komplette geistige Leistungsfähigkeit zur Verfügung zu haben, nicht? Außerdem fühlt es sich gut an, wenn wir uns selbst ermutigen und uns etwas zutrauen.

Schreiben Sie sich einen neu bewertenden Satz (ähnlich den Beispielen oben) auf, für Ihre „Lieblings-Lernsituation“. Probieren Sie aus, ob sich dieser Satz wirklich ermutigend und stärkend für Sie anfühlt – die Worte, die Sie selbst wählen, sind wichtig. Nehmen Sie diesen Satz dann mindestens an den sechs folgenden Tagen je einmal zur Hand, lesen Sie ihn und spüren Sie nach, wie er sich anfühlt. Durch die sechsmalige Wiederholung ist gewährleistet, dass Ihnen der Satz dann auch unmittelbar in der Situation einfällt, um die es Ihnen geht.

Wichtig: mehr müssen Sie nicht tun! Nicht anschließend weiter nachdenken, nicht bewerten, ob das nun etwas genützt hätte oder nicht. Verlassen Sie sich darauf, dass Ihr Gehirn mit der Zeit mit dieser Situation anders umgeht – und bis dahin genießen Sie den leichteren Zustand, in den Sie Ihr ausgewählter Satz bringt.

 

Was hatten Sie übrigens auf dem Beitragsfoto gesehen?? War das Weiße auf dem See für Sie eine Reflexion der Wolken, eine Schaum-Ablagerung, oder was?

Hier können Sie sehen, was wir beim Näherkommen an diesen See auf einer Hochebene in Sardinien (Giara di Gesturi) entdecken konnten….. eine Unmenge von kleinen, im Wasser wachsenden weißen Blumen!

Fotos: Christian Corona

Ist es nicht wunderbar, wenn etwas vermeintlich Schlechtes oder Schädliches sich beim näheren Hinschauen als etwas Schönes erweist? Und haben wir das nicht alle schon erlebt?

Für diejenigen unter Ihnen, die sich für die genaueren Zusammenhänge interessieren, hier ein Zitat aus dem rundum spannend zu lesenden Buch “Führen mit Hirn”von Sebastian Purps-Pardigol (Kapitel „Glaube und Amygdala“ – in meinem E-Book ab Position 2017) :

Wir sehen Gefahren, die keine sind. Ist unsere Amygdala erst einmal aktiv, sorgt sie nicht nur dafür, dass durch einen kaskadenartigen Prozess unsere Nebennieren Stresshormone ausschütten und sich Blutdruck und Puls verändern. Sie reduzieren zudem den Zugriff auf die sensiblen neuronalen Netzwerke unseres präfrontalen Cortex: den Ort, an dem all unsere höheren geistigen Leistungen und unsere Potenziale beherbergt sind. Wir können in so einem Moment nicht mehr auf alles zugreifen, was in uns steckt. Wir sind nicht mehr die beste Version dessen, wer wir sein könnten. Oftmals sind die Gefahren, die unsere Amygdala als solche erkennt, jedoch nur vermeintliche Gefahren. Nicht die Realität selbst, sondern unsere Interpretation der Realität führt zu einer hohen Amygdala-Aktivität mit all den dazugehörigen Stressreaktionen. In seinem Handbüchlein der Moral schrieb der antike Philosoph Epiktet bereits 125 n. Chr.: „Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über dieselben beunruhigen die Menschen….”

Der Stanford-Forscher Kevin Ochsner hat mit einigen Kollegen des Massachusetts Institute of Technology im Jahr 2002 Epiktets Aussage auf den neurowissenschaftlichen Prüfstand gestellt. Das Forscherteam konnte beweisen: Wir können die Amygdala-Aktivität durch die Veränderung unserer Meinung reduzieren.

Eine ruhigere Amygdala ermöglicht uns, wieder mehr Zugriff auf unseren präfrontalen Cortex und die in ihm schlummernden Potenziale zu erlangen. Wir können über uns hinauswachsen. Die Amygdala reagiert immer schneller als unser Verstand, um uns unmittelbar vor einer Gefahr zu schützen. Doch bereits innerhalb weniger Augenblicke können bewusst gelenkte Gedanken die Kontrolle zurückgewinnen und die Amygdala-Aktivität und alle damit verbundenen Stressreaktionen reduzieren. Ochsner und seine Kollegen haben in ihren Experimenten herausgearbeitet, dass die Neuinterpretation einer Situation einer der wirkungsvollsten Wege ist, sein Ziel zu erreichen.

Die Wissenschaftler untersuchten die Wirkung von emotional negativ assoziierten Fotos auf das menschliche Gehirn. Beispielsweise zeigten sie den Versuchsteilnehmern ein Bild von weinenden Menschen vor einer Kirche, die aussahen wie eine Trauergemeinde. Die Teilnehmer der Studie wurden gebeten, eine angenehmere Interpretation für dieses Bild zu finden.“

Das Ergebnis war: wenn die Teilnehmer nur die Bilder betrachteten und auf sich wirken ließen, registrierte der Hirnscanner eine hohe Amygdala-Aktivität. Wenn die Teilnehmer versuchten, die Bedeutung des Bildes positiv zu verändern, zeigte der Hirnscanner eine stark reduzierte Aktivität der Amygdala.

Es könnte also sein, dass alleine schon die Tätigkeit des Umbewertens uns hilft, in einen handlungsfähigeren Zustand zu kommen!