Es gibt keine Wahrheit. Sondern Ihre, meine, und die aller anderen. Das lehren wir in Mediationsausbildungen – wir sprechen dort von der Bedeutung des persönlichen Erlebens. Darüber kann dann in Anerkennung der Unterschiedlichkeit ein Dialog geführt werden.
Warum ich heute darüber schreibe? Weil ich finde, dass wir in der aktuellen Zeit besonders auf unseren Schatz an seelischer und persönlicher Energie aufpassen sollten.
Ich möchte das an einem Beispiel erklären: Zwei Spaziergängern begegnet im Park ein nicht angeleinter Hund. Der eine geht freudig auf diesen „fröhlichen kleinen Kerl“ zu und spricht mit ihm, der andere erschreckt sich total und sucht Schutz am Arm des Freundes.
Wie kann das sein?
Alles, was wir erleben, trifft auf den „Sack“ unserer ganz persönlichen Erfahrungen. Ich stelle mir das manchmal so vor, dass wir davon umgeben sind, als Sammlung all dessen, was wir jemals erlebt haben. Diese Erfahrungen sind ja, wie wir wissen, verbunden mit den Gefühlen, die wir dabei empfunden haben – ob wir das erinnern oder nicht.
Und aus dieser Verbindung entstehen bei jeder neuen Erfahrung unsere Gefühle! Bei jedem und jeder von uns!
Was hat das jetzt damit zu tun, Energie zu sparen???
Ich habe mir erlaubt, diesen zur Zeit wegen des Klimawandels so oft verwendeten Begriff zu gebrauchen, weil auch im seelischen, persönlichen Erleben Energie verbraucht wird und es sich lohnt, dort auf unseren Vorrat an Energie aufzupassen.
Zum Beispiel lohnt es sich nicht, darüber zu streiten, ob Sie eben wütend waren oder nur klar Ihre Meinung gesagt haben. Da steht zweimal persönliches Erleben nebeneinander.
Was an dieser Stelle Energie spart, ist, anstatt um die Richtigkeit des persönlichen Eindrucks zu streiten, sich innerlich zu sagen „Ah, das sehen wir unterschiedlich“. Oder „Ah: deine Meinung – meine Meinung“.
Ja, wahrscheinlich erleben Sie jetzt Gefühle der Empörung, wenn Sie gerade eine solche oder ähnliche Situation erlebt haben… Ich gestehe, es braucht etwas Übung, um zu dieser Haltung zu kommen.
Aber dann bringt sie eine Erleichterung, die Sie sich vielleicht noch nicht vorstellen können und für die es sich lohnt, zu üben.
Betrachten Sie das als eine Art Mantra. „Deine Meinung – meine Meinung.“
Und dann, weil Sie ja wissen, dass auf der anderen Seite ebenso gute Gründe wir auf Ihrer Seite für diesen Eindruck bestehen, können Sie in eine Art Forscherhaltung gehen und danach fragen, was genau die andere Seite erlebt hat.
Oder, wenn das gerade noch nicht geht, „aus dem Feld“, dem gemeinsamen Wahrnehmungsbereich gehen und abwarten, bis so ein Gespräch möglich ist.
Das nenne ich „Energie sparen“. Sie können sich sicher mühelos vorstellen, welche Auseinandersetzung an dieser Stelle alternativ möglich wäre und wie Sie und die andere Seite sich danach fühlen. Und wie lange Sie danach brauchen, bis es Ihnen wieder gut geht. „Ärger ist schlecht für’s Immunsystem“, sagt Vera Birkenbihl.
Gerade jetzt brauchen wir unsere Kraft, um Lösungen für die aktuelle Krise zu entwickeln, und um in dem Vertrauen zu bleiben, dass wieder ander Zeiten kommen. Ich glaube, es lohnt sich, uns darauf zu fokussieren, anstatt darauf, ob wir recht oder unrecht haben.
Was haben Sie in dem Beispiel oben über die beiden Spaziergänger gedacht? Wessen Verhalten fanden Sie „unangemessen“?
Genau! Da ist sie, die unterschiedliche Wahrnehmung! Welche Erlebnisse haben Sie mit Hunden?
Der erste Spaziergänger könnte in einem Dorf mit frei herumlaufenden Hunden aufgewachsen sein, und der andere wurde vielleicht als Kind von einem Hund gebissen …
Ob es sich lohnt, sich darüber zu streiten? Ich denke, nein. Und gleichzeitig soll kein Anspruch daraus werden, dass diese Haltung immer gelingt. Ein paarmal aus alten Mustern auszubrechen ist schon eine große Verbesserung.
In diesem Sinne: achten Sie bitte auf Ihre persönliche Energie, fokussieren Sie sich auf Gemeinsames, darauf, was Ihnen jetzt Freude macht. So viele Dinge, die Sie sich jetzt wünschen würden, sind ja gerade nicht möglich. Überlegen Sie sich etwas, das Sie noch nie gemacht haben, probieren Sie Neues aus! Überraschung und Freude sind zwei der wichtigsten Gefühle, die Ihnen Energie geben!